APS im Lean Production-Umfeld
Ingo Laqua, Dr. Götz Marczinski
Dass die Fließfertigung den »klassischen« Fertigungsprinzipien überlegen ist, wird grundsätzlich kaum bestritten. Trotzdem werden im konkreten Fall immer wieder Bedenken bezüglich der Umsetzung im eigenen Unternehmen geäußert. Wird es richtig angepackt, ist es ein gangbarer Weg, wie ein Praxisbeispiel zeigt.
»Ja, das Fließprinzip ist gut und niedrige Bestände sind erstrebenswert, aber hier geht das nicht. Weil die Losgrößen zu klein, die Variantenvielfalt zu hoch, die Flexibilität der Anlagen zu niedrig und die Qualifikation der Mitarbeiter nicht breit genug sind.« Das sind Bedenken, die in der Praxis immer wieder zu hören sind. Im Ergebnis führen allerdings die vielen Kompromisse zur Produktion »auf großem Fuß«. Man leistet sich Bestände, fährt Überstunden für Produkte, die direkt ins Lager gehen, belegt großzügig die Produktionsflächen mit Paletten und deckt sich reichlich mit Vormaterial ein. Die Produktionsleistung ist auf hohem Niveau, nur leider beklagen sich die Kunden über lange Lieferzeiten, unzuverlässige Terminzusagen und langwierige Terminabsprachen.
Nutzen von APS-Systemen
Um hier Abhilfe zu schaffen, empfehlen sich die Methoden des Wertstromdesigns.
Die zentrale Frage: Wie groß ist das Intervall (der Zeitabschnitt), innerhalb dessen jedes Teil
produziert werden kann? Je kleiner der Jetii (jedes Teil im Intervall), desto geringer der Bestand
und desto kürzer die Durchlaufzeit. Grundsätzlich gibt es einige Rahmenbedingungen im Unternehmen,
die für den Einsatz eines solchen Systems sprechen. Hierzu gehören eine komplexe Produktstruktur
mit hoher Stücklistentiefe, die ein hohes Maß an Intransparenz bezüglich Auftragsstand und
Bearbeitungsfortschritt mit sich bringt sowie eine komplexe Produktionsstruktur, die eine Optimierung
über mehrere Bearbeitungsstufen benötigt, um die Gesamtdurchlaufzeit zu optimieren. Oft sind es
auch instabile Produktionsprozesse und unzuverlässige Lieferanten, die häufiges Umplanen erfordern.
Probleme bereiten in vielen Fällen auch eine hohe Reaktionsbereitschaft, die bezüglich Terminaussagen
(z. B. mehrstufige Belastungssimulation der Fertigung) notwendig ist, sowie mehrdimensionale
Planungsprobleme, die keine manuelle Optimierung erlauben. Hier bieten APS-Systeme in der Tat
eine Reihe von Vorteilen und es bleibt der Bezug zum Kundenauftrag über alle Fertigungsstufen
erhalten. Etwaige Verschiebungen einzelner Fertigungsaufträge zeigen somit in einem Auftragsnetz
die unmittelbaren Auswirkungen auf den jeweiligen Kundenauftrag an. Alleine diese Visualisierung
ist für einige Anwender Grund genug, Transparenz in eine komplexe Produktionsumgebung zu bringen.
Entscheidend für ein APS-System ist aber sicherlich die Tatsache, dass alle Ressourcen
simultan gegen begrenzte oder unbegrenzte Kapazitäten über mehrere Fertigungsstufen verplant
werden können. Liegezeiten können reduziert und die Auslastung der Produktionsressourcen kann
optimiert werden. Trotz aller Vorteile: Erst wenn die Produktion, entsprechend der Zielsetzung
verschwendungsfrei zu produzieren, aufgeräumt und eine entsprechende Produktionssystematik
etabliert ist, stellt sich die Frage, ob ein APS-System weitere Verbesserungspotenziale verspricht.
Fallbeispiel »Schlanke Vorfertigung«
Ein Hersteller von Leuchten hat sein Montageprinzip erfolgreich auf Fließfertigung umgestellt. Mit
den bekannten Methoden des Lean Management wurde gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen CIM Aachen
die Linienmontage eingeführt. Das neue Prinzip macht den Montageleiter für die Zukunft
zuversichtlich, mit einer Einschränkung: »Wir montieren alles über Nacht, wenn nur die
Teile verfügbar sind.« Der Knackpunkt ist also die Verfügbarkeit von Teilen aus der so
genannten Vorfertigung, die über eine Lagerstufe von der Montage entkoppelt ist.
Im Rahmen des Projekts war also die Aufgabe zu lösen, ein »schlankes« Steuerungsprinzip
für die Vorfertigung festzulegen und das daraus resultierende Bestandsniveau im Lager zu bestimmen.
Hierzu wurde der Jetii-Berechnungsansatz verwendet. Dieser bestimmt ausgehend von einer maximal
mglichen Anzahl Rüstvorgänge eines Schrittmacherprozesses in einer Bearbeitungsfolge die minimal
möglichen Losgrößen. In letzter Konsequenz beinhaltet dieser Arbeitsschritt also, die
Dispositionsparameter für die Planung und Steuerung aus der Kundenperspektive zu optimieren.
In diversen Workshops wurden beim Leuchtenhersteller für Teile mit ähnlichen Bearbeitungsfolgen
Produktfamilien gebildet und für die einzelnen Produktfamilien entsprechende Wertstromdiagramme
aufgezeichnet. Also ganz »klassisch« Wertstrom-Analyse. Oder doch nicht? Im Fallbeispiel war der
Ansatz viel breiter als in der Wertstrom-Theorie: Alle Produkte waren zu hundert Prozent zu
betrachten, denn es gab zu viele konkurrierende Zugriffe auf gemeinsame Kapazitätseinheiten.
Im Ergebnis waren 60 Kostenstellen mit über 30 Produktfamilien zu betrachten, wobei mehr als ein
Drittel der Anlagen von zwei oder mehr Produktfamilien genutzt wurden. Doch damit nicht genug.
Aufgrund der Dynamik in der Belastungssituation, das heißt extremer Schwankungen sowohl im Volumen
(Stückzahl) als auch im Produktmix (Varianten), war die »Haltbarkeit« der erhobenen Daten nicht
ausreichend für eine verlässliche Skalierung des Wertstroms. Gefordert ist also ein dynamischer
Ansatz zur Skalierung. Da die Skalierung des Wertstroms ohnehin mit einem IT-Werkzeug (VSD-Tool)
durchgeführt wurde, war dieses Werkzeug auf die vorhandenen Anforderungen anzupassen.
Das VSD-Tool sollte in der Lage sein, schnell auf die laufenden Veränderungen reagieren zu können,
ohne den erheblichen Berechnungsaufwand aufs Neue wiederholen zu müssen. Methodisch wurden für
jede Produktfamilie an Stelle des Schrittmachers (der leider nicht je Routing unterschiedlich war)
die Startkostenstelle und das zugehörige Routing ermittelt. Jetzt ging es darum, die minimalen
Losgrößen zu bestimmen. Dazu wurden die »Fingerabdrücke« der Kapazitätseinheiten aus der
Wertstromanalyse im VSD-Tool abgebildet. Um der Dynamik von Volumen- und Auftragsmix Rechnung zu
tragen, wurden Mengengerüste und andere relevante Daten aus den Rückmeldungen in SAP entnommen.
Dynamische Wertstromskalierung
Bei der Bestimmung der Losgrößen mit Hilfe des VSD-Tools übernimmt die Access-DB die
Datenhaltung und gleichzeitig das Aufteilen des gesamten Datenvolumens eines betrachteten
Fertigungsbereiches in einzelne Produktfamilien. Diese Daten werden nun an das eigentliche Berechnungstool
übergeben. Beim Datenimport werden gleichzeitig die notwendigen ABC-Analysen durchgeführt und aufbauend
auf den Anlagenkenndaten die Schrittmacher einer Produktfamilie bestimmt. Um die Jetii-Rechnung
erfolgreich durchführen zu können, sind dann die Losgrößen anzupassen. In Abhängigkeit der Anzahl
möglicher Rüstvorgänge sind hierbei die Prozesserfordernisse und optimalen Behältermengen zu berücksichtigen.
Diese Aufgabe lässt sich leicht und komfortabel mit dem VSD-Tool erledigen. Der Planer hat somit den
Rücken frei und kann mit mehr Aufmerksamkeit die konzeptionelle Dimensionierung realisieren. Ist
die Berechnung abgeschlossen, wird nun der automatische Import der Dispositionsparameter ins zugehörige
SAP-System angestoßen.In einer eintägigen Schulung wurde den Disponenten der Auftragsleitstelle die Theorie
und der Umgang mit diesem Werkzeug vermittelt und im Anschluss die Änderung der Dispositionsparameter
erfolgreich durchgeführt. Bei Änderungen der Sortiments- oder Auftragsstruktur, der Arbeitsabläufe oder der
Fertigungssituation kann schnell eine Neuberechnung durchgeführt werden. Die Dispositionsparameter im ERP-System
entsprechen aktuell der Realität. Dementsprechend hochwertig sind die Planungsergebnisse.
Die dynamische Wertstromskalierung mit dem VSD-Tool hat den Praxistest bestanden. Damit gab es keine
Entschuldigungen mehr, aufgrund der Komplexität im eigenen Betrieb und dem vermeintlich fehlenden Seriencharakter
auf den Einstieg in die schlanke Produktion mit dem Wertstrom-Design zu verzichten. Doch damit ist nicht
entschieden, alles mit »Block und Bleistift« zu steuern. Zwar sind viele, aber nicht alle Gründe, ein
APS-System einzuführen, damit hinfällig. Die hohe Varianz in Volumen und Menge sowie die schnelle und
verlässliche Auskunftsfähigkeit bei Anfragen bieten noch genug Potenzial für den sinnvollen APS-Einsatz. Die
Empfehlung, mit dem Wertstrom-Design anzufangen, heißt deswegen zunächst nur: Die Berechnungsmethoden und die
Dispositionsparameter für die Produktionsplanung und -Steuerung aus der Kundenperspektive zu optimieren.
Viel wichtiger ist es aber, die Grundsätze, wie in Zukunft produziert werden soll, festzuschreiben. Und dazu
gehören ineinander verzahnte Bausteine, von der Entlohnung und dem Arbeitszeitmodell über intelligente
Konzepte zur Materialversorgung zu stabilen Produktionsprozessen und Tools zur kontinuierlichen Verbesserung.
Sie sind somit zwingende Voraussetzung für die marktsynchrone Produktion. Gefordert ist ein stimmiges
Produktionssystem.
erschienen in eDM Report, 06/2008