Shop-floor IT - Wer sie braucht und was sie leistet!

Ingo Laqua, CIM GmbH Aachen

Unternehmen sind heute mehr denn je gefordert, ihre Produktionsressourcen effizient einzusetzen. Hierzu ist es erforderlich, die Komplexität aus der Produktion herauszunehmen und abgestimmte Methoden für wirksamen Ressourceneinsatz zu implementieren. Dies erfolgt mit einem individuellen Produktionssystem, das im Bedarfsfall gezielt durch shop-floor-nahe IT-Lösungen ergänzt werden kann.

Wachsende Konjunktur, steigender Auftragseingang und immer kürzere Produktlebenszyklen erhöhen die Komplexität der Produktionsplanung und -Steuerung in der Fertigungsindustrie nachhaltig. Die Unternehmen reagieren hierauf mit unterschiedlichen Strategien. Während die einen alles daran setzen, um das steigende Mengengerüst möglichst effizient durch das Unternehmen, und damit auch durch die Fertigung, zu schleusen, sind andere darauf bedacht, die Komplexität durch permanente Sortimentsbereinigung oder eine Optimierung der Produktstruktur zu reduzieren.

Hausaufgabe Komplexitätsreduzierung
In der Praxis ist häufig beides erforderlich. Zum einen ist eine Sortimentsbereinigung, bspw. im Ersatzteilgeschäft obsolet, zum anderen bedeutet eine saubere Produktstruktur in den meisten Fällen eine grundlegende Neukonzeption vorhandener Entwicklungen und Konstruktionen. Dieser Aufwand wird oft gescheut und ist in der Tat auch nicht zu unterschätzen.
Dennoch ist und bleibt eine intelligente "Plattformstrategie" sowohl in der Prozessindustrie wie auch in der diskreten Fertigung ein Muss, wenn es um Einsparungen und Reduzierung im Prozessaufwand von Einkauf, Abwicklung und Fertigung geht. Auf die Produktionsplanung bezogen ist leicht nachzuvollziehen, dass die Steuerung standardisierter Bauteile und Baugruppen in mittleren Losgrößen weniger komplex ist als eine Vielzahl unterschiedlicher Artikel für unterschiedliche Baugruppen in Kleinstlosgrößen zu produzieren. Eine intelligente Produktstruktur ist deshalb ein - häufig bewusst nicht nach außen kommunizierter - Erfolgsfaktor.

Was heißt shop-floot IT?
Anbieter shop-floor-naher IT-Systeme haben sich letztendlich auf die Unternehmen spezialisiert, die Ihre Komplexität, sei es marktinduziert oder auch selbst verursacht, nicht beherrschen. Die Bereitstellung entsprechender Funktionalitäten soll dabei helfen, erhöhte Aufwände effizient abzuwickeln und nicht zuletzt auch Transparenz in die häufig undurchsichtigen Abläufe zu bringen.
Zu solchen Systemen zählen heute in erster Linie APS- (Advanced Planning and Scheduling) und MES- (Manufacturing Execution) Systeme, die unterhalb der klassischen ERP zum Einsatz kommen.
Hauptaufgabe solcher shop-floor-Systeme ist einerseits die Optimierung der vorhandenen Produktionsressourcen, auf Basis unterschiedlicher Prämissen wie bspw. Termine, Kapazitätsauslastung oder erzielbarer Produktmarge. Die Eunktionalitäten, die hier bereitgestellt werden, beziehen sich auf eine bspw. rüstoptimierte Reihenfolgeplanung oder eine eher auslastungsorientierte Kapazitätsplanung. Andererseits werden mit Hilfe solcher Systeme die auf dem shop floor anfallenden Daten gesammelt, systematisch aufbereitet und für die eingestellten Planungsalgorithmen zur Verfügung gestellt. Zu diesen Daten gehören bspw. Daten von Fertigungsprozessen, also klassische Prozessdaten, Prüfdaten oder Daten aus dem Instandhaltungsmanagement.

Was leisten shop-floor-IT- Systeme?
An dieser Stelle unterscheiden sich die Systeme zum Teil aber grundlegend. APS-Systeme, die letztendlich die Weiterentwicklung des klassischen Leitstands sind, legen ihren Schwerpunkt auf die Planungsfunktionalitäten. Sie sind als Weiterentwicklung der ERP-Planungs-Funktionalitäten zu sehen und ergänzen diese als klassische add-on-Lösung. APS-Systeme unterscheiden sich in Ihrer Funktionalität gegen ERP-Systemen im Wesentlichen in folgenden Punkten:

  • Einplanung gegen begrenzte und unbegrenzte Kapazität
  • Simultanplanung aller Ressourcen (Mensch, Maschine, Material)
  • Aufrechterhaltung des Kundenauf tragsnetzes (Bezug von Fertigungs auftrag zu Kundenauftrag)
  • Lieferterminermittlung in Echtzeit (availabe-to-promise und capable- to-promise)
  • Dynamische Berechnung von Über gangs- und Liegezeiten.

Hierbei werden in der Regel die Spezifika einzelner Branchen derart berücksichtigt, dass die Art der Fertigung entsprechende Auswirkungen auf die einzustellenden Steuerungsalgorithmen hat. Ein Anlagenbauer (A-Fertigung: aus vielen Einzelteilen wird ein Endprodukt gebaut) hat naturgemäß andere Planungsprämissen haben als ein Prozessfertiger (V-Fertigung: aus einem Vorprodukt werden unterschiedliche Endprodukte hergestellt). Während der Anlagenbauer bspw. bestrebt ist, die richtigen Komponenten zur richtigen Zeit zur Verfügung zu haben (mehrdimensionale Ressourcenplanung, bspw. als Plantafel visualisiert), steht für den Prozessfertiger die Auslastung der kapitalintensiven Produktionsanlagen im Vordergrund. APS-Anbieter haben sich auf diese unterschiedlichen Anforderungen spezialisiert und bieten entsprechend interessante Branchen"-Lösungen an.
Im Gegensatz zu APS-Systemen, die die Ebene der Datenerfassung unberücksichtigt lassen, ermöglichen MES-Systeme die Korrelation von Prozess- zu Auftragsdaten. Die Funktionalität von MES-Systemen geht weit über die von APS-Systemen hinaus. Um dem Wildwuchs der Systeme, die sich MES nennen, Einhalt zu gebieten, beschreibt die VDl-Richtlinie 5600 heute einheitlich, welche Funktionalitäten ein MES-System mitbringen muss. Aber auch das hält manchen Anbieter nicht davon ab, für MES eine eigene Interpretation zu finden und sein System trotz fehlender Funktionalität weiterhin unter diesem Modebegriff zu vermarkten.
MES-Systeme unterscheiden sich vorrangig in folgenden Punkten zu APS-Systemen:

  • erfassen alle fertigungsrelevanten Prozessdaten,
  • korrelieren diese Prozessdaten mit Auftragsdaten, wodurch bspw. eine Chargenverfolgung überhaupt erst möglich wird,
  • haben gegenüber APS-Systemen ge mäß VDl-Richtlinie 5600 deutlich erweiterte Funktionalitäten in Bezug auf Datenerfassung und -Verdich tung, Leistungsanalyse (Echtzeit), Qualitätsmanagement und Instand haltungsmanagement,
  • stellen die erfassten Daten den je weiligen Anwendungen in einem System zur Verfügung und
  • sind somit in der Lage, produktions relevante Auswirkungen zeitnah in den Planungsprozess einfließen zu lassen.

"Zeitnah" heißt in diesem Fall, dass Produktionsereignisse wie bspw. der Ausfall von Produktionsressourcen (bspw. Maschinen oder Personal) innerhalb einer Schicht eine unmittelbare Neuplanung veranlassen. Bei APS-Systemen bedarf dies eines physischen Anstoßes durch den Fertigungssteuerer, was in der Regel immer einen zeitlichen Verzug von mindestens einer Schicht mit sich bringt. Das bedeutet aber nicht, dass MES-Systeme grundsätzlich die besseren, weil umfangreicheren APS-Systeme sind. In Bezug auf die vorhandenen Planungsfunktionalitäten haben APS-Systeme gegenüber MES-Systemen in den meisten Fällen eben doch den deutlich größeren "Tiefgang".
Diese Tatsache resultiert häufig auch aus der Vergangenheit, die manche MES-Anbieter mitbringen. Entsprechend den MES-Funktionalitäten kommen diese Anbieter aus den Bereichen Prozessdatenerfassung, Qualitätsmanagement oder Instandhaltung. Die jeweiligen Systeme haben häufig dort ihren Schwerpunkt und nicht allzu selten in anderen Bereichen deutliche Schwächen. Dies betrifft eben auch sehr häufig die Planungs- und Steuerungsfunktionalitäten.
Ein weiterer Aspekt, den es an dieser Stelle zu berücksichtigen gilt, ist die Frage, welche Funktionalitäten im Unternehmen überhaupt benötigt werden.

Wer braucht shop-floor-lT?
Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine shop-floor-lT in der Tat zielführend, um eine Produktion effizienter zu gestalten. Dies kann von einer Veranschaulichung der Fertigungsaufträge auf einer lT-unterstützten Plantafel über die Visualisierung eines Auftragsnetzwerkes bis zur modulübergreifenden Lösung einer Chargenverfolgung reichen. Neben Unternehmen mit gesetzlichen Auflagen wie bspw. der Chargenverfolgung reichen. Neben Unternehmen mit gesetzlichen Auflagen wie bspw. der Chargenverfolgung, können shop-floor-IT-Systeme das Produktionssystem bei Unternehmen mit komplexen Produktionsstrukturen ergänzen. Diese zeichnen sich bspw. durch eine Vielzahl an Bearbeitungsmaschinen oder -schritten, komplexe Auftragsnetzwerke oder einer Vielzahl von Fertigungsaufträgen in der Produktion aus (sofern dies nicht Indiz für ein Problem in der Planung und Steuerung ist).
Ein weiterer Indikator für eine shop-floor-IT sind komplexe Planungsalgorithmen, die auf einer Vielzahl von Wenn-Dann-Beziehungen beruhen, um ein Produkt herstellen zu können. Beispiel hierfür ist eine Stahlschmelze, bei der der Stahl erst geschmolzen werden kann, wenn die entsprechenden Betriebsmittel bereitstehen, damit die Schmelze innerhalb einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Legierungsofen transportiert werden kann, dessen Verfügbarkeit wiederum von weiteren Kriterien abhängig ist. Solche Beziehungsgeflechte sind ab einer bestimmten Stufe nicht mehr manuell zu handhaben, geschweige denn zu optimieren. Hier setzen dann die Optimierungsalgorithmen solcher IT-Systeme an.

Systematik kommt vor System
Nach der Feststellung, wer solche Systeme braucht, bleibt noch die Frage: Wer braucht sie nicht? Oder besser: Wem helfen Sie nicht weiter? Problematisch wird es immer dann, wenn ein Unternehmen nicht erkennt, dass Markt und Produktionsstruktur spezifisch aufeinander abgestimmte Mechanismen erfordern, die man nicht mit einem Stück Software kaufen kann.
Ein Beispiel verdeutlicht diesen Zusammenhang: Was machen Ihre Mitarbeiter, wenn bspw. das APS-System in einer marktsynchronen Produktion den Arbeitsvorrat einer Woche so dimensioniert und optimiert hat, dass ab üonnerstagmittag nichts mehr zu produzieren ist? In diesem Fall hat das Unternehmen 3 Möglichkeiten:

  • Es wird weiter produziert. Da eigentlich nicht mehr benötigt wird als das System ausgewiesen hat, heißt das auf Lager produzieren und damit Verschwendung.
  • Die Kollegen werden in einem an deren Bereich eingesetzt. Der wurde aber bereits im Vorfeld ressourcen- seitig geplant. Bedarf entsteht also nur bei kurzfristigem Ausfall.
  • Die Zeit wird sinnvoll für SS-Pro gramme oder ähnliches verwendet. Wenn dies jedoch 1,5 Tage dauert, muss die Effizienz dieser Organisation doch h int erfragt werden.

Zwingende Voraussetzung in einem solchen Fall ist also ein flexibles Arbeitszeitmodell, das dem Bereich ausreichend Spielraum für die Auslegung von Arbeitszeiten lässt. Andererseits profitiert das Unternehmen davon, dass die Mitarbeiter nach Hause gehen, wenn keine Arbeit da ist. Das wirft aber die nächste Frage auf: Warum sollten Sie das tun? Und schon ist man bei einer leistungsorientierten Entlohnung angelangt, die bspw. die erzielte Leistung in Relation zur Anwesenheitszeit setzt. So hat der Mitarbeiter zwei Stellhebel die Produktivität und damit seinen Prämienlohn zu erhöhen: Mehr Ausbringung pro Anwesenheitszeit oder vorgegebene Ausbringung bei reduzierter Anwesenheitszeit. So baut ein Baustein auf dem anderen auf. Das Gesamtgebilde ist nichts anderes als das Produktionssystem , das Ergebnis gezielt aufeinander aufbauender Methoden und Organisationsprinzipien.

Fazit
Neue Technologien und offener Datenaustausch im Bereich shop-floor-naher IT-Systeme ermöglichen heute einen standardisierten Datenaustausch zwischen einzelnen Systemen. Hierdurch kann der "Best-of-breed"-Gedanke, also die Auswahl der leistungsfähigsten Module, tw. auch unterschiedlicher Anbieter, konsequent verfolgt werden. Ergänzt durch „Mobile Computing-Lösungen" und RF1Ü (Radio Frequency Identification) werden die Systeme immer flexibler und sind mobil in der Produktion einsetzbar. Jedes Unternehmen sollte sich aber genau überlegen, welche Funktionen tatsächlich an welcher Stelle benötigt werden und das Produktionssystem unterstützen. Hierfür muss die Systematik vor dem System aufgebaut werden, denn eine 6-stellige Fehlinvestition kann sich heute keiner mehr leisten.

erschienen in PPS Management, März 2008

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