Digitale Fabrik – mit dem 4-Stufenmodell zum Erfolg

Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Götz Marczinski ist Geschäftsführer der CIM Aachen GmbH.

Die Idee der Digitalen Fabrik ist, von Anfang an alle Teile, Arbeitsschritte, Technologiefolgen und die Produktionsmittel vor dem ersten physischen Zusammenbau gleichzeitig rechnerunterstützt zu entwickeln, zu planen und in ihrer Wechselwirkung zu optimieren. Mit den Methoden der Digitalen Fabrik sollen Produkt- und Prozessentwicklung zum zeitparallelen Arbeiten befähigt werden, so dass bereits in frühen Entwicklungsphasen das Produktions-Know-How in die Entwicklung mit einfließt.

Als konkrete Zielvorgabe wird häufig definiert, in Zukunft keine Investition in Produktionsmittel (Kapazitätserweiterung, Einführung neuer Technologien, neue Produktionsanlagen) freizugeben, die nicht im Vorfeld digital abgesichert wurde. Neben der Absicherung der Planungen sollen

  • die „Time-to Market“ verkürzt,
  • die Standardisierung vorangetrieben,
  • Ablaufoptimierungen und damit Durchlaufzeitverkürzungen erreicht,
  • Änderungskosten reduziert und
  • flexible, entsprechend dem tatsächlichen Kundenbedarf skalierbare Fabrikkonzepte entwickelt werden [1].

Als strategische Zielvorgabe wird definiert, dass die unter dem Begriff Digitale Fabrik zusammengefassten Methoden und Hilfsmittel beherrscht werden müssen, um in Zukunft im Wettbewerb zu bestehen. Damit wird die Digitale Fabrik, bewusst oder unbewusst, in den Bereich der Produktivitätstechnologien gerückt. Produktivitätstechnologien eignen sich nicht für die nachhaltige Wettbewerbsdifferenzierung; wer jedoch diese Technologien nicht beherrscht, der droht hinter den Wettbewerb zurück zu fallen.

Die Digitale Fabrik wird notwendig, aber nicht hinreichend zur zukünftigen Wettbewerbsdifferenzierung sein.

Projektbeispiele

Grundsätzlich lassen sich bei den Anwendungen der Digitalen Fabrik in der Praxis zwei Stoßrichtungen unterscheiden. Beim produktmodellbasierten Ansatz wird ausgehend vom Werkstück über die Fertigungsfolge, die Maschinen und Peripherie bis hin zu den Gebäuden ein Produktionssystem digital entwickelt. Die Planung erfolgt bezogen auf die reale Fabrik „von Innen nach Außen“ [2]. Vor allem in der Neuplanung (Produktionsanlagen für neue Produkte) für Serienproduktion findet diese Methode Anwendung. Anwender finden sich vor allem in den Planungsabteilungen der Serienhersteller, der entsprechenden Anlagenlieferanten (Werkzeugmaschinen,...) oder Ingenieurbüros, die für diese Unternehmen arbeiten. Gemeinsames Charakteristikum der Anwender ist eine breite CAD-Durchdringung und der durchgängige Einsatz von EDM/PDM-Systemen im Produktentstehungsprozess, der die digitale Basis für die Verzahnung mit der Prozessentwicklung bietet.
Demgegenüber erfolgt beim layout-basierten Ansatz die Planung von Außen nach Innen. Ausgehend von einem 2D Fabriklayout und digitalen Modellen der Maschinen und Anlagen wird ein digitales Modell der Produktion entwickelt. Damit wird die Struktur- und Materialflussplanung für die Optimierung bestehender Fabriken oder die Neuplanung von Fabriken für die variantenreiche Produktion wesentlich vereinfacht. Anwender dieses Ansatzes sind traditionell Architektur- bzw. Ingenieurbüros, die damit für die Struktur- bzw. Layoutplanung über die 3D-Visualisierung einen gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Planungsperspektiven schaffen. Aber auch in den Fabrikplanungsabteilungen der Serienhersteller sind die entsprechenden Hilfsmittel zur Layoutgestaltung Stand der Technik.
Tendenziell überwiegt beim layoutbezogenen Ansatz die Visualisierung, während beim produktbezogenen An-satz die Verzahnung von Produkt- und Prozessmodellen erfolgt. Die Absicherung der Planungsergebnisse über Simulationen ist im produktbezogenen Ansatz auf Basis des gemeinsamen Datenmodells möglich; im layoutbezogenen Ansatz werden separate Materialfluss- bzw. Ergonomiesysteme eingesetzt [3].

Methodische Anforderungen an die Projektdurchführung

 

Um vor diesem Hintergrund ein Projekten zur Digitalen Fabrik systematisch aufzusetzen sind nach den Erfahrungen der CIMAachen methodisch fünf Problemkreise aufzulösen:

  • Problemkreis 1
    Die Nutzenpotenziale der Digitalen Fabrik sind strategisch und operativ zu sehen. Strategisch stellt sich die Frage nach der mittel- und langfristigen Wettbewerbsposition (Bild 1). Wo steht das Unternehmen in 5 Jahren, wenn die Methoden und Hilfsmittel der Digitalen Fabrik nicht beherrscht werden? Operativ stellt sich die Frage, ob die Digitale Fabrik zur Behebung akuter oder latenter Schwachstellen (Durchlaufzeitprobleme, Qualität der Planungsergebnisse, Produktionsanlauf,..) in Entwicklungsprozessen oder beim Produktionsanlauf eingesetzt werden kann [4]. Es sind also strategische Nutzenpotenziale von kurzfristig quantifizierbaren Performance-Indikatoren zu unterscheiden.
  • Problemkreis 2
    Die Digitale Fabrik eröffnet ein attraktives Marktpotential für entsprechende Softwareprodukte. Dementsprechend gefärbt sind die Angebote der Experten, deren Geschäftsmodell auf Softwarelizenzen, Implementierungs- und Wartungskosten beruht. Es muss jedoch zunächst darum gehen, ein softwareunabhängiges Konzept für die Einführung und Nutzung der Digitalen Fabrik unternehmensspezifisch zu erarbeiten und zielkonform in die Unternehmensstrategie einzubinden.
  • Problemkreis 3
    Die „Digitale Fabrik“ ist ein unscharfes Schlagwort mit viel Interpretationsspielraum. Die Erwartungshaltung hinsichtlich der Nutzenpotenziale und der Aufwände, um diese zu erschließen ist dementsprechend diffus. Neben dem gemeinsamen Verständnis über die möglichen Nutzenpotenziale der Methoden und Hilfsmittel der Digitalen Fabrik ist deswegen der technische Hintergrund der angebotenen Softwaretools anzusprechen. Damit soll das Bewusstsein für notwendige Vorarbeiten, insbesondere in Fragen der Datenhaltung und –bereitstellung geschärft werden.
  • Problemkreis 4
    Methoden und Hilfsmittel der Digitalen Fabrik sind so vielfältig wie die Fertigungs- und Montagetechnologien selbst. Zwar gibt es breit anwendbare Tools wie die Materialflusssimulation, doch auch die erfordern vielfach die Kenntnis der detaillierten Anforderungen. So sind die Unternehmensbereiche grösserer Unternehmen in unterschiedlichen Märkten aktiv, bieten Produkte mit unterschiedlichem Komplexitätsgrad an und setzen dafür unterschiedliche Technologien ein. Die Bewertung der Nutzenpotenziale muss die dadurch verursachten strukturellen und ablauforganisatorischen Unterschiede berücksichtigen.
  • Problemkreis 5
    Die Digitale Fabrik ist ein Prozessthema, dass nicht nur Software betrifft sondern vor allem auch Arbeitsabläufe [5]. Grundlage dazu ist die inhaltliche Beschreibung und Terminierung aller Aktivitäten im Produkt- und Produktionsentstehungsprozess (PEP) von der Entwicklung und Planung über die Werke und Lieferanten. Für die Praxis relevant sind die Wirkzusammenhänge zwischen der Prozessstandardisierung und der sachgerechten Ablaufdefinition. Ob und in welcher Art und Weise die Digitale Fabrik als „Enabler“ effizienter Planungsprozesse genutzt werden kann, ist auf Basis einer fundierten Prozessanalyse zu klären.

Bei einer ungenauen Analyse besteht das Risiko von Fehlentscheidungen, wie an einem weiteren Beispiel der CIMAachen deutlich wird. Die Ergebnisse der entsprechenden Ablaufanalyse sind vereinfacht in Bild 2 anhand der fünf typischen Tätigkeiten in Entwick-lungsbereichen dargestellt.

Demnach verbringen die Planer des im Beispiel zitierten Unternehmens 50% ihrer Zeit mit der Dokumentation bzw. dem Suchen nach Informationen. Fragt man die Planer, wie sie glauben, ihren Tag verbracht zu haben ergibt sich eine etwas andere Gewichtung, die vielfach durch persönliche Abneigungen geprägt ist. Die Abneigung gegen administrative Tätigkeiten zeigt sich besonders deutlich bei den Antworten auf die Frage, wie die Planer gerne ihren Tag verbringen würden. Hier überwiegt die produktive, planerische Tätigkeit.

In dieser deutlichen Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegt eine Gefahr für Projekte zur Digitalen Fabrik. Denn es entstehen grundsätzlich andere Maßnahmenpläne, wenn die Ziele zur Digitalen Fabrik an der Wunschvorstellung statt am realen Ist-Zustand ausgerichtet werden. Im ersten Fall scheinen tatsächlich die planungsunterstützenden Maßnahmen zielführend zu sein, während in der Realität viel unspektakulärere Maßnahmen der Standardisierung, der Dokumentation bzw. systematischen Datenhaltung erste Priorität hätten.

Eine systematische Vorgehensweise zur Einführung der Digitalen Fabrik sollte also diese Problemkreise lösen. Dazu muss sich jedes Unternehmen fragen, in welcher Ausgangslage es sich konkret befindet.

Vorgehensweise

Auf Basis der o. g. Erfahrungswerte empfiehlt sich eine vierstufige Vorgehensweise zur Durchführung von Projekten zur Digitalen Fabrik (Bild 3).
Die erste Stufe dient der Zieldefinition, und zwar sowohl auf der strategischen als auch auf der operativen Ebene. Regelmäßig kommt dabei die strategische Ebene zu kurz. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass strategische Aspekte nur auf Basis von Informationen beurteilt werden können, die nicht ohne weiteres im Unternehmen verfügbar sind. Ob die Digitale Fabrik im Einzelfall von strategischer Bedeutung ist, ergibt sich aus folgenden Fragen:

  • Ist die Digitale Fabrik für das eigene Unternehmen eine Schlüsseltechnologie? Wenn ja, dann werden in Zukunft bestimmte Kernleistungselemente der eigenen Produkte nicht ohne die Methoden der Digitalen Fabrik realisiert werden können. Das ist zum Beispiel immer dann der Fall, wenn die Grenzen der Planbarkeit mit herkömmlichen Methoden erreicht sind (Bild 4).
  • Ist die Digitale Fabrik für das eigene Unternehmen eine Produktivitätstechnologie? Wenn ja, dann werden die entsprechenden Möglichkeiten in Zukunft notwendig, aber nicht hinreichend für die nachhaltige Wettbewerbsdifferenzierung sein. Gegebenenfalls kann man sich hier auf das zukünftige Leistungsangebot der Zulieferer oder Dienstleister verlassen.

Erst nachdem der strategische Rahmen festgelegt ist, lässt sich der Untersuchungsumfang für ein mögliches Projekt festlegen und ein Raster für operative Ziele vorgeben. Ein solches Raster beschreibt die Ziele zunächst qualitativ, beispielsweise als „Verkürzung der Entwicklungszyklen“, „Beschleunigung des Produktionsanlaufs“ oder die „Absicherung bestimmter Technologien“. Das Suchraster bestimmt die Methodik der Ist-Aufnahme. Hier kann der Analyseaufwand sonst schnell ins Uferlose wachsen. Im nächsten Schritt werden in Bezug auf die Zielsetzung erkannte Schwachstellen systematisiert und zu möglichen Verbesserungsmaßnahmen in Bezug gesetzt. Auf diese Weise werden sog. „Potenzialfelder“ gebildet, die Ansatzpunkte für konkrete Umsetzungsmaßnahmen bilden. Ein Potenzialfeld könnte beispielsweise die „Integration der Lieferanten“ oder die „Nutzung der Prozesssimulation“ sein. Schließlich wird ein Sollkonzept erarbeitet. Das beinhaltet regelmäßig eine „Blaupause“ der zukünftigen IT-Landschaft, Empfehlungen zur Ablaufoptimierung (insbesondere Abteilungsübergreifend) und eine Priorisierung der Maßnahmen entsprechend der Aufwand/Nutzen-Relation zur Erschließung der Potenzialfelder.

In der Umsetzung steht dann in der Regel ein Projekt an, das in der Dimension und den Wechselwirkungen (Org.-Ablauf-IT) einer ERP Einführung ähnelt. Dabei ist die Hürde zu nehmen, dass Entwicklungsprozesse sehr selten als arbeitsteiliger Prozess verstanden werden. Im Ergebnis ist es aber genau das, was die Digitale Fabrik tut: Abteilungs- und sogar unternehmensübergreifende Entwicklungsprozesse in arbeitsteiligen Strukturen zu ermöglichen.

Fazit

Um die latent vorhandene hohe Innovationskraft im Zeitwettbewerb zur Wirkung zu bringen, setzen führende Unternehmen auf klar definierte Ent-wicklungsprozesse, die arbeitsteilig und damit reproduzierbar auf hohem technischen Niveau ausgeführt werden können. So ist in vielen Fällen ein Produktentstehungsprozess (PEP) definiert worden. Mit den Methoden und Hilfsmitteln der Digitalen Fabrik ist es möglich, die Verzahnung des PEP mit der Prozessentwicklung und der Produktion zu erreichen.

Dazu muss eine systematische Methode gewählt werden, die strategische und operative Ziele gleichermaßen berücksichtigt und die softwareunabhängige Konzeption erlaubt. Dazu empfiehlt es sich, das Angebot neutraler Berater zu nutzen [6]. Denn es gibt Erfahrungswerte, was man in jedem Fall vermeiden sollte, um bei der Projektdurchführung nicht im „Gestrüpp hängen zu bleiben“. Dazu gehören:

  • Nicht am „falschen Ende“ anfangen!
  • Keine Ziele verfolgen, die nur vordergründig klar definiert sind!
  • Nicht zwischen „operativen“ und „strategischen“ Zielen springen!

Der erste Punkt trägt der Tatsache Rechnung, dass die Digitale Fabrik nicht auf der Grünen Wiese erstellt wird. Der zweite Punkt fordert die klare Nutzenquantifizierung. Der dritte Punkt wird relevant, wenn durch die systematische Vorgehensweise Maßnahmen erarbeitet werden, die den Verantwortlichen nicht „visionär“ genug sind. Dann wird die Digitale Fabrik zur strategischen Aufgabe erklärt. In der Praxis schwingen die Verantwortlichen dann zwischen den Deutungsversuchen „was will der Chef“ und der systematischen Nutzen/Aufwand-Betrachtung hin und her. Im Ergebnis findet man dann oft abstruse Nutzenpotenziale für vielfach akademische Ansätze. Höchstwahrscheinlich wird am falschen Ende (aus Sicht des Anwenders) angefangen, womit wir wieder am Anfang wären (s. Punkt 1). Ein Erfolg versprechendes Projekt wird also im Idealfall von einem externen Partner begleitet, der analytische Fähigkeiten bezüglich der Effizienz von Entwicklungsprozessen mit der Kenntnis des Softwaremarktes verbindet.

Digital Factory

The concept behind the digital factory is to simultaneously design, engineer, and opti-mize parts, processes and production re-sources before the first part is cut or physi-cally assembled. The methods of the digital factory shall enable the concerted product and process development, so that manufacturing knowledge can benefit the early stages of development. Companies aiming to use the concept of the Digital Factory may draw on the experiences from different industries. A 4 staged approach how to apply the promising concept and how to avoid obvious pitfalls is revealed.

Keywords:
Otimization of the workflow, staged approach to the digital factory, time-to-market, simula-tion, visualization of the flow of material, simultanuous engineering, product develop-ment performance

Literatur

[1] Bis 2005 realisiert – Projekt „Digitale Fabrik“ bei DaimlerChrysler, E.F. Schiller, W.-P. Seufert, Automobil Produktion, April 2002
[2] Einstieg leicht gemacht – Einstiegs- und Aufbaustufen zur digitalen Fabrik für den Mittelstand, Fahrion Engineering, Fertigung, November 2004
[3] Digitale Fabrik – Anwendung in der mechanischen Fertigung, Tagungsband zum gleichlautenden Seminar, CIM GmbH Aachen (Hrsg.), Ulm, November 2004
[4] Digitale Fabrik – anspruchsvolle Technologien sinnvoll einsetzen, G. Marczinski, ZwF Jahrg. 99, November 2004
[5] Audi: Digitale Fabrik ist erst in zweiter Linie ein IT-Thema, G. Grabmeier, Produktion Nr. 14, April 2003
[6] Panta rei: Ein Produktionssystem im Fluss, I. Laqua, Produktion Nr. 18, Februar 2005

Schlüsselwörter
Ablaufoptimierung, Stufenmodell Digitale Fabrik, time-to-market, Simulation, Visualisierung, Simultaneous Engineering, Produktentstehungsprozess (PEP)

Kontakt

CIM Aachen GmbH
Kasernenstr. 25
52064 Aachen
Tel.: 0241/8887-0
Fax: 0241/8887-100

 

erschienen in PPS Management, Mai 2005

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